SPD fragt statt Apotheker Arzt und Abgeordneten (Königsteiner Woche)

Veröffentlicht am 23.09.2010 in Presse

Diese Räder stehen nicht still, weil kein Politiker es will: An großen Rädern drehen, um kleine Veränderungen zu erreichen, so beschrieb Dr. Thomas Spies den Alltag in der Gesundheitspolitik. Davor kam jedoch erst einmal das große Zittern: „Ich telefoniere noch nach dem Referenten“ erklärte Ortsvereinsvorsitzende Gabriele Klempert das unter anderen Umständen unhöfliche Handy an ihrem Ohr, während sich das Balkonzimmer in der Villa Borgnis mit knapp 25 Besuchern gefüllt hatte. Hochinteressierten übrigens, wie sich in der späteren Diskussion herausstellen sollte.

Mit wenigen Minuten Verspätung traf Spies dann doch noch ein, unter anderem der Kreisel hatte ihm leichte Schwierigkeiten bereitet – sonst passiert dies dem Landtagsabgeordneten allerdings nicht, denn der Mediziner übt neben seinem Mandat auch noch den Beruf des Notarztes aus. Obwohl heute nur zur politischen Sprechstunde angereist, hatte er Gabriele Klempert und ihren Stellvertreter Marco Abbé vermutlich gerade noch vor einem Herzinfarkt bewahrt...

Ein Wundliegen sollte es bei den Zuhörern hingegen nicht geben, so versprach Klempert in ihrer Einleitung ein striktes Zeitmanagement, obwohl es unzählige Themen anzusprechen galt: Kein Tag vergeht ohne Pressemeldungen zur Gesundheitspolitik, stellte die Moderatorin fest, nicht ohne sich zu bedanken, dass sie die Meldungen aus dem eigenen Lager stets vorab lesen darf. Rote Zahlen in Krankenhäusern und deren Privatisierung, Hygiene-Skandale, schlechte Noten für Pflegeheime („auch das, wo meine Mutter früher untergebracht war“), Ärztemangel und höhere Zuzahlungen – offensichtlich gibt es nur schlechte Nachrichten, wozu Dr. Spies auch das Ausscheiden von Jürgen Banzer aus der Landesregierung zählte, was die Königsteinerin freilich etwas anders sah.

Vielleicht hätten da ein Paar Beruhigungstropfen geholfen, doch hier übernahm der gesundheitspolitische Sprecher: 90 Prozent der Psychopharmaka werden nicht von Kinderpsychiatern verordnet, kam er zunächst auf das Thema „Fachärztemangel“ zu sprechen. Denen wollte er zwar nicht gerade ein Armuts-Zeugnis in Sachen Honorare ausstellen, plädierte allerdings für eine bessere Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel: Mit etwa einem Zehntel der Volkswirtschaft verteilt das Gesundheitswesen unglaubliche Summen an mehr Beschäftigte als die Autoindustrie. Dennoch ticken hier die Uhren etwas anders, denn es müssen auch Produkte finanziert werden, die sich nicht lohnen, schlimmer noch: Genau genommen ist der Gang zum Arzt eine Leistung, die eigentlich niemand in Anspruch nehmen will, wenn er nicht unbedingt muss. „Die Ökonomie ist ein kritisches Feld“ gab der Mediziner unumwunden zu, doch wollte er auch den Privatpatienten, der mitunter mehr medizinischen Service bekommt, als ihm guttut, nicht als leuchtendes Beispiel akzeptieren.

Mit dem Begriff der „Gesundheitsreform“ zeigte er sich aber auch nicht zufrieden, sie versteht er eher als ein regelmäßiges Nachsteuern im Kurs eines Tankers, damit dieser nicht aus dem Ruder läuft: „Viel Aufwand, aber kaum Veränderungen“. Beim „Ruckeln an den etwa 30 bis 40 Stellrädern“ gebe es wohl immer ein bisschen Gerumpel, doch müsse man das mit Gelassenheit sehen: „Kein Mensch käme je auf die Idee, einem Arzt ärztliches Handeln zu verbieten!“ Schier unglaublich die nächste These: Mit einer Ausnahme bei der Wiedervereinigung koste das Gesundheitssystem seit 40 Jahren immer das gleiche, wenn man sie in Relation zur Volkswirtschaft setzt: „Dinge, die das Gesundheitssystem teurer machen, haben immer auch eine Auswirkung auf die volkswirtschaftliche Situation“ und noch konkreter: „Teuer sind nur die letzten sechs Monate im Leben eines Menschen.“ Mehrkosten durch die heute längere Lebenserwartung verwies er ebenso ins Reich der Legenden wie die Verteuerung durch den medizinischen Fortschritt: „Ein Bypass kostet heute fast nichts mehr“, so das konkrete Beispiel dafür, dass der Fortschritt die einmal teuer entwickelten Techniken auch billiger mache, was sich auch am zunehmenden Einsatz von Computerprogrammen nachvollziehen lässt.

Warum steigen aber die Beiträge zur Krankenversicherung weiterhin? „Leute, die einen besonders hohen Beitrag für die Sozialversicherung könnten, gehen da nicht hin“, Gesunde findet man überwiegend bei den Privatversicherungen – und weder Kapitalerträge noch Nebeneinkommen werden zur Beitragsermessung in den Kassen berücksichtigt. Die Idee der Rürup-Kommission, dass jeder einen gleichen Anteil vom Einkommen bezahlt, ist rechtlich wohl nicht zu machen, eher schon das Einfordern zweier Sätze: einen auf das Gehalt, einen zweiten auf Kapitalerträge, doch „dazu müsste man eine Mehrheit in Bundestag und Bundesrat haben, das wird wohl erst 2014 was.“ Am Bundesrat sieht Dr. Spies auch Minister Rösler scheitern, „bei der Kopfpauschale muss eine Sicherung eingebaut werden“, einen direkten Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung schränkt er aber ein: „Es ist auch eine Bildungsfrage“, obwohl da noch die Sache mit der „Zugangsfrage“ zum Facharzt bleibt: „In Blankenese gibt es Kinderärzte wie Sand am Meer und woanders kommt die Tuberkulose wieder.“

Ist schon die Arbeit in der Innenstadt anders als im noblen Vorort, so gilt das erst recht für die Landärzte: Der moderne Mensch, auch wenn er Medizin studiert, will nicht mehr so leben: „Wer Medizin studiert, will alles mögliche machen, aber keinen Kredit aufnehmen, um ein Kleinunternehmen zu führen“ – und das in Zeiten der Vaterzeit rund um die Uhr. Gegen derartige Veränderungen in der Gesellschaft – dazu zählt auch die Tatsache, dass immer mehr pflegebedürftige Alte auf dem Land wohnen bleiben, während die gesunde Jugend in die Ballungsräume zieht – helfen nur neue Ideen. Ein vorbeugender Wohlfahrtsstaat, der Krankwerden verhindert, zählt ebenfalls dazu wie ein Blick auf skandinavische Nachbarn, die das System über die Steuer finanzieren und Ärztezentren bauen, in denen zwar verschiedene Fachärzte ihren Dienst tun, aber nicht täglich, sondern reihum. Wer sich an die gute alte Gemeindeschwester oder Diakonisse erinnert, kann sich unter der „zusatzqualifizierten Krankenpflegekraft vor Ort“ etwas vorstellen, ebenso unter dem Prinzip, das die Kommunen hier wieder mehr spezifische Lösungen anbieten sollen (was Königstein mit seinem Krankenhaus durchaus schon länger tut). Ohne staatliche Steuerung geht schließlich natürlich nichts, aber auch hier sind neue Wege gefragt: Die Ökonomisierung des Gesundheitssystems war gewiss zu Beginn eine gute Idee, doch stößt sie nach rund 20 Jahren an ihre Grenzen, wie die Hygiene-Skandale in Krankenhäusern zeigen.

 

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